Eigentlich wollte ich schon längst einmal eine Buchrezension schreiben, Einfach, weil ich sehr gerne und viel lese und der Meinung bin, dass es unzählige Bücher gibt, die es wert wären, vorgestellt zu werden – aber jetzt ist mir ein Buch in die Hände gefallen, das derartig laut „sprich darüber“ schreit, dass ich es etwas ausführlicher beleuchten möchte. Vor allem, da es nicht nur ein Buch mit gutem Inhalt ist, sondern eines, das massiv Einfluss auf mein aktuelles Leben genommen hat. Und so sehr ich Bücher liebe – sowas passiert nicht gerade häufig.
Vor allem, da dieses Buch ein Sachbuch ist, das in einem Bereich angesiedelt ist, den ich normalerweise großzügig umgehe: Es beschäftigt sich mit Übergewicht. Es ist allerdings KEIN Diätratgeber – das schonmal direkt vorweg geschickt, ehe die ersten entsetzt wegklicken.
Es handelt sich um das Buch „Fettlogik überwinden“ von Dr. Nadja Herrmann *klick*, die in der Blogwelt auch unter dem Namen erzählmirnix (und nochmal *klick*) wohlbekannt ist. Das Buch ist derzeit nur als kindle-Version erhältlich, was aber den Vorteil hat, dass die 6,90€ Verkaufspreis kein Hindernis bei der Anschaffung darstellen.
Gestoßen bin ich auf das Buch über den Blog von erzählmirnix, auf dem sie – neben anderen Themen – auch immer wieder das Thema Übergewicht und den gesellschaftlichen Umgang damit aufs Korn nimmt. Nachdem ihr Buch veröffentlicht war, hat sie auf ihrer Seite auf das Buch und den neuen, zugehörigen Blog verwiesen, und ich bin eher zufällig dorthin geraten, hab dann online die ersten Seiten gelesen und das Buch gekauft.
An dieser Stelle muss ich ein wenig ausholen: Auch ich gehöre in die lange Reihe der Menschen, die zu viel Gewicht mit sich herumschleppen. Schon immer. Seit ich denken kann, war ich zu schwer für mein Alter, auch wenn ich mit etwa 11-12 Jahren im Prinzip ausgewachsen und somit nicht nur schwerer, sondern eben auch größer als meine Mitschülerinnen war. Bilder von damals attestieren mir kein Dicksein – aber so habe ich mich gefühlt. Ich bin mit einer sehr weiblichen Figur gesegnet, weswegen 8-10 kg über „Normalgewicht“ bei mir noch nicht besonders auffallen. Trotzdem fühlte ich mich fett und unbeholfen – nicht durchgängig, aber immer wieder mal. Eine sehr passive, computerspielintensive Phase während meines Studiums führte dann zu einer massiven Gewichtszunahme, in deren Folge ich anfing, das Thema zu verdrängen. Ich war zwar immer wieder mal unglücklich und hasste den Gang auf die Waage beim Gynäkologen, aber so richtig was tun konnte/wollte ich nicht. Ich bin also kein typisches „Diätopfer“. Erst Anfang 2013 hatte ich die Schnauze endgültig voll und ging zu Weight Watchers – mit dem Schock: 100,5 kg zeigte die Waage an.
Seitdem bin ich langsam, aber kontinuierlich weniger geworden und habe inzwischen mein selbst definiertes Zielgewicht von 78 kg erreicht – immer noch leichtes Übergewicht, aber ich sehe jetzt wieder so aus, wie ich früher in meinen besten Jahren aussah. Auf „BMI-Normalgewicht“ wollte ich nicht, weil ich dachte „von diesem ganzen BMI-Pseudoscheiß lasse ich mir nicht diktieren, wie ich auszusehen habe.“ Als ich auf das Buch von erzählmirnix gestoßen bin, habe ich etwa 81 kg gewogen und hing da sehr hartnäckig fest – seit über einen halben Jahr.
Aber wieder zurück zum Thema: Ich habe also das Buch angelesen, dann sofort gekauft und quasi in einem Rutsch durchgelesen – so sehr fesselte mich, was ich da las.
Rein optisch ist das Buch nicht besonders aufregend – es hat ein schönes Titelbild, aber das Inhaltsverzeichnis ist nicht verlinkt, genauso wenig wie die Literaturhinweise, was ich hilfreich gefunden hätte – kurz, man merkt, dass das Buch im Eigenverlag erstellt wurde. Aber das ist nebensächlich. In diesem Buch geht es einzig und alleine um den INHALT. Und der ist der Hammer – weil er einfach, wissenschaftlich hinterlegt und letztlich so unfassbar simpel ist.
Eingebettet in ihre eigene Abnehmgeschichte (die Autorin wog 150 kg und ist inzwischen, nach knapp einem Jahr, bei 62(!) kg angelangt) nimmt sich die promovierte Psychologin die gängigen Diätmythen und all die Behauptungen vor, die mit dem Abnehmen verknüpft sind – und zerlegt eine nach der anderen. Und zwar auf wissenschaftlicher, fundierter Basis.
Das geht los bei der Behauptung „Ich esse nur 1000 kcal und nehme nicht ab!“ (nein: Menschen unterschätzen den Kaloriengehalt von Nahrung erheblich) über „Mein Stoffwechsel ist kaputt!“ (nein: wäre er das, wärst du tot) bis „Bei weniger als xxxx kcal Nahrungsaufnahme schaltet der Körper in den Hungermodus und lagert alles ein, was er kriegen kann!“ (nein: wäre das so, hätten die Menschen keine einzige Hungersnot überlebt) und viele weitere Mythen – eben „Fettlogiken“, die eine einzige, wissenschaftlich bewiesene Tatsache verschleiern: Abnehmen = weniger Kalorien rein, als verbraucht werden.
Fertig. Ende. Iss keine Kohlenhydrate? Iss nicht nach 20 Uhr? Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages? Alles Humbug – zumindest unter dem rein physikalischen Aspekt. Dass sie als Regeln beim Abnehmen helfen können, weniger Kalorien zu sich zu nehmen, bestreitet die Autorin nicht. Was sie bestreitet, ist, dass am Ende des Tages irgendetwas anderes zählt als die Kalorienbilanz.
Nach den ersten entlarvten Fettlogiken folgt im Mittelteil des Buches der wissenschaftliche Part, in dem unzählige Studien aufgeführt werden, die sehr stichhaltig belegen, dass Übergewicht einen negativen Einfluss auf die Gesundheit hat. Und was für einen. Vor allem im massiv übergewichtigen Bereich (morbide Adipositas) wird einem anhand von bis zu 300% erhöhten Risiken für einige Herz-Kreislauf-Erkrankungen dann doch etwas anders. Dieser Part des Buches kann sich durch die schiere Ansammlung von Studienergebnissen etwas trocken lesen lassen, wenn man mit wissenschaftlicher Literatur nicht allzusehr vertraut ist, aber die reine Informationsmenge macht es trotzdem sehr, sehr aufschlussreich.
Der dritte Part des Buches beschäftigt sich mit einem Aspekt des Übergewichtes, den ich aufgrund meines Soziologiestudiums selbst wahnsinnig spannend fand: mit dem gesellschaftlichen Umgang mit Übergewicht. Schonungslos zeigt die Autorin auf, dass wir keinesfalls in einer Gesellschaft leben, in der „Magerwahn und Schlankheitsterror“ herrschen, sondern vielmehr in einer, die immer übergewichtiger wird und in der inzwischen das Körperbild so verschoben ist, dass wir leichtes Übergewicht als „normal“ wahrnehmen. Das Kapitel tauchte bereits im Januar in abgewandelter Form auf erzählmirnix auf (Link oben), und in diesem Blogeintrag demonstriert die Autorin nochmal bildhaft, was im Buch nur mit wenigen fotografischen Beispielen belegt wird: Was wir als „mollig“ oder „moppelig“ empfinden, ist Übergewicht. Was wir als „richtig dick“ empfinden, ist morbide Adipositas. Was wir als „fett“ empfinden, ist jenseits von Gut und Böse.
Dass sich die Wahrnehmung verschoben hat und nicht etwa der BMI als Maßstab zu niedrig ist, wird durch alte Werbung/Bilder aus den 50-70er Jahren belegt. Der Motivationssatz für schöne Frauen, der im Internet seit Jahren kursiert, stimmt: „Früher wog ein Model 8% weniger als die Durchschnittsfrau. Heute sind es 23%.“ Aber nicht, weil die Models immer dünner werden. Sondern weil die Durchschnittsfrau immer dicker wird. Gleichzeitig herrscht ein ausgeprägtes Misstrauen gegen abnehmende Mitmenschen. Den meisten wird relativ schnell gesagt „nimm nur nicht zu viel ab, sonst wirst du zu dünn“, wenn sie nicht gar (un)bewusst manipuliert werden (Teller extra voll machen etc.). Eine Erfahrung, die ich übrigens selbst machen musste.
Auch erschreckend ist, wie wenig sich Ärzte trauen, Übergewicht als Ursache für Gesundheitsprobleme anzusprechen, sondern erst mal andere Punkte angehen – also eher zu einer Knie-OP raten als dazu, radikal abzunehmen. Ob das daran liegt, dass den Ärzten die Zusammenhänge teilweise selbst nicht so deutlich bewusst sind (was ich erschreckend fände) oder daran, dass sie keine Lust haben, ein unangenehmes Patientengespräch zu führen, bleibt verständlicherweise offen.
Ebenso neu für mich war, dass es auch unter normalgewichtigen Menschen eine ganze Menge gibt, die eigentlich einen zu hohen Körperfettanteil haben – jeder kennt doch jemanden, der dünn ist, aber total unsportlich. Dass diese Menschen die gleichen Gesundheitsrisiken wie Übergewichtige haben, ist meiner Meinung nach viel zu wenig bekannt.
Am Ende folgen noch etliche Seite Literaturverzeichnis – ich muss gestehen, ich habe sie nur überflogen – die den Eindruck erhärten, dass es sich hier um eine wissenschaftlich sehr fundierte Zusammenfassung zum Thema Übergewicht handelt.
Mein Fazit: Das Buch ist unaufgeregt, wahnsinnig sachlich und extrem fundiert – und es gibt keine Heilsversprechen, keine „folgt meinen Tipps, dann nehmt ihr ab!“-Botschaften. Man merkt, dass die Autorin aus der wissenschaftlichen Ecke kommt, aber man merkt auch, welche Selbsterkenntnisse es gewesen sein müssen, und wie schmerzhaft der Prozess war, der durch die Überwindung der „Fettlogik“ hindurch führte. Sie ist mit ihrer eigenen Gewichtsreduktion ein krasses Gegenbeispiel zu vielen Fettlogiken, die langsames Abnehmen propagieren.
Der dritte Teil hat mich am meisten erschreckt, weil er zeigt, wie sehr das Übergewicht schon in der Gesellschaft verankert ist. Allein dieser Part macht es meiner Meinung nach unumgänglich, dieses Buch nach kräften in seiner Verbreitung zu unterstützen, denn: Übergewicht ist nicht gesund. So wenig wie Rauchen. Und das muss in den Köpfen ankommen.
Übrigens hat mich das Buch dazu gebracht, meine inzwischen schleifende Abnahme wieder anzugehen. Eine der ganz großen Erkenntnisse in diesem Buch war für mich der Aspekt von Krafttraining als Schutz vor erneuter Zunahme und als gesundheits- und fitnessfördernde Maßnahme. Und eine Erkennitnis, die die Autorin von sich berichtet und die ich nun bei mir voller Erstaunen selbst entdecke: Sport kann Spaß machen. Es muss nicht nur Quälerei sein wie das immer wieder halbherzige Joggen, das ich bisher praktiziert habe.
Das Buch hat mir den letzten notwendigen Tritt in den Hintern verpasst, mich auch noch den letzten Kilos zu stellen und Muskeln aufzubauen. Immerhin will ich ja im August in die Alpen. Und da möchte ich nicht nach drei Tagen schlappmachen.